Die sonst so unruhige Jugend schwieg. Ernste Blicke, angespannte Gesichter. Über die NS-Zeit, die wir Schüler in- und auswendig zu kennen glaubten, hörten wir aus einer ganz anderen Perspektive, als wir gewohnt waren: nicht aus der Sicht der Geschichtsbücher, nicht aus den Erzählungen der Überlebenden. „Als ich Hitlers Stimme hörte, war ich glücklich“ las Eva Madelung laut vor. Vor ihr lagen Exzerpte ihres 2014 veröffentlichten Romans „Reden, bevor es zu spät ist – Erinnerungen einer ehemaligen Nationalsozialistin.“
Am vergangenen Donnerstag den 12. Mai versammelten sich Lehrer und Schüler der Oberstufe in der Aula um einen ganz besonderen Gast zu empfangen: Dr. Eva Madelung, die Tochter des Namengebers unserer Schule. Der Besuch kam durch das neue Banner an unserer Schulfassade zustande, das letztes Jahr von einer 11. Klasse entworfen wurde und das Leben von Robert Bosch in 15 Bildern darstellt. Um ihre Intention umzusetzen, nahmen die Schülerinnen und Schüler der ehemaligen 11.4 (Schuljahr 2014/15) Kontakt zu Boschs Familie auf und fanden in Frau Doktor Eva Madelung eine kritische Begleiterin für ihren künstlerischen Prozess unter der Anleitung ihres Kunstlehrers Dr. phil. Kai Gurski. Aus dieser guten Kooperation entstand die Idee für die Veranstaltung.
Eva Madelung liest aus ihrem Buch Reden bevor es zu spät ist und erklärt SchülerInnen des 12. Jhgs politische Zusammenhänge und autobiographische Bezüge
Nach einer einführenden Rede des Schulleiters, Dr. Wilfried Kretschmer, begann Frau Madelungs Lesung.
Ihr Roman ist keine Autobiografie, weist aber solche Züge auf. Eva Madelung selbst war zu Zeiten des Nationalsozialismus noch sehr jung, aber ein begeistertes Mitglied des Jungmädelbundes gewesen. Sie erzählte uns über den Wunsch dazuzugehören und das starke Gruppengefühl, das sie in dem Bund verspürte und darüber, dass sie damals noch zu jung war, um sich ernsthaft vom Nationalsozialismus vereinnahmen zu lassen.
In Anbetracht der massenhaften Anhängerschaft des Nationalsozialismus behaupten heutzutage viele Leute: “So etwas wäre mir damals nie passiert”. Eva Madelung betrachtet sie mit kritischem Blick. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, unter welchem Sog man damals stand. Madelung stellte sich selbst die Frage „Was wäre aus mir geworden, wenn ich einige Jahre früher geboren wäre?!“ und durch ihre kritische Selbstreflektion entstand ihr Roman. In ihm beschreibt sie das Leben der fiktiven Figur Eva Pasch, die wie sie aus einer Widerstandsfamilie kam und trotzdem mit den Nationalsozialisten sympathisierte. „Ich wusste nichts, weil ich nichts wissen wollte“, erklärt Eva. Immer wenn etwas geschah, das sie hätte wachrütteln können, verdrängte sie es – ein unbewusster Selbstschutzmechanismus.
Eva Madelung liest aus ihrem Buch Reden bevor es zu spät ist und erklärt SchülerInnen des 12. Jhgs politische Zusammenhänge und autobiographische Bezüge
Neben den Konflikten mit sich selbst werden im Buch auch die Konflikte der Generationen beschrieben, mit denen Pasch konfrontiert wird. Sie hat damit zu kämpfen, dass sie und ihr Vater konträren Weltanschauungen anhängen, weswegen es immer wieder zu Reibungen kommt. Der aktiv im Widerstand verwickelte Vater will, um Eva zu beschützen, sie nicht zu sehr in seine Welt verwickeln. Sagt er aber trotzdem etwas, so wird dies von Eva bestritten oder ignoriert.
Jahre nach dem Krieg taucht der nächste Generationenkonflikt auf, der von Pasch und ihrer Tochter Hanna ausgetragen wird. Wie so viele der 68er Generation, hinterfragt auch Hanna das Handeln ihrer Mutter zur NS-Zeit. Die Mutter schweigt, umgeht das Thema. Hanna bricht den Kontakt zu ihrer Mutter ab und bewegt sich in immer linkeren Kreisen und wird letztendlich Sympathisantin – obgleich nicht aktives Mitglied – der RAF. Der von dieser Trennung verursachte Schmerz bringt Pasch dazu, ihrer Tochter einen Brief zu schreiben, in dem sie auf alle Fragen Antwort gibt, denen sie zuvor aus dem Weg gegangen war.
Eva Madelung beschreibt ihr Buch als eine Art Rechenschaft vor sich selbst. Zwar versucht sie die damaligen Zustände nicht zu entschuldigen, aber doch sie zu erklären.
Nachdem sie auf alle Fragen des Publikums eingegangen war, beendete Eva Madelung die Lesung mit einem Denkanstoß. Sie sprach über die sogenannte Doppelmoral der Gruppe, eine archaische, immer wieder auftauchende Gruppendynamik, die dadurch charakterisiert ist, dass eine große innere Kohäsion der Mitglieder der Gruppe herrscht, während es gleichzeitig eine starke Abgrenzung aller Nichtmitglieder gibt. Eva Madelung erinnerte uns daran, welch unmenschliche Konsequenzen solch eine Doppelmoral der Gruppe mit sich bringen kann, und lud dazu ein, über die heutige Situation Deutschlands zu reflektieren.