Über das Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 auf dem Hildesheimer Lappenberg
„Warum sind die Juden in Deutschland so reich? – Eine Frage eines Schülers der sechsten Klasse. Mai 1937?“, fragt Wolf-Georg von Eickstedt von der jüdischen Gemeinde Hildesheim die etwa 150 Menschen, die sich am 9. November um 16 Uhr beim Gedenken an die Reichspogromnacht am Hildesheimer Lappenberg versammelten. Recht schnell stellt er klar, dass diese Aussage aus dem Jahr 2016 stammte und hob auf diese Weise die Aktualität des Themas Antisemitismus an diesem denkwürdigen Tag mehr als deutlich hervor.
Schließlich stellt diese Aussage inzwischen keine Ausnahme mehr dar, vielmehr bereitet es von Eickstedt Sorgen, dass sich Fremdenhass und Antisemitismus zunehmend in der Mitte unserer Gesellschaft breit machen und setzte sich während seiner Gedenkrede besonders intensiv mit der erstarkenden AfD auseinander. „Sind wir wirklich so gefestigt, dass so etwas, wie es am 9. November 1938 geschah, nie wieder passieren kann?“, wendete er sich mahnend an das Publikum und listete zahlreiche rechtspopulistische Regierungen in den Nachbarstaaten Deutschlands sowie den jüngst gewählten Präsidenten der USA, Donald Trump, auf.
Auch der Hildesheimer Oberbürgermeister, Dr. Ingo Meyer, zeigte sich besorgt um das Erstarken der „kleinen und großen Donald Trumps“, denen es lediglich um Abgrenzung, als vielmehr um das „einander Einende“ gehe. Im Rahmen seiner Gedenkrede würdigte er vor allem die Arbeit der Robert-Bosch-Gesamtschule, die sich, wie auch bereits in den vergangenen Jahren, bei der Gedenkveranstaltung einbrachte.
Ende der 80er Jahre rief der Lehrer Hans-Jürgen Jahn eine Arbeitsgemeinschaft an der Robert-Bosch-Gesamtschule ins Leben, die sich der Pflege und Aufarbeitung des jüdischen Friedhofes in der Hildesheimer Nordstadt widmete. Aus dieser AG ist inzwischen die Beth-Shalom-AG unter derzeitiger Leitung von Mathias Reisener an der Robert-Bosch-Gesamtschule hervor gegangen, die die Aktivitäten der Anfangszeit fortsetzt und sich jedes Jahr an dem Gedenken an die Reichspogromnacht mit einbringt.
Für die diesjährige Gedenkveranstaltung erforschten die vier Schülerinnen der Arbeitsgemeinschaft die Lebensläufe zahlreicher Hildesheimer Holocaust-Opfer und stellten vier Biografien am frühen Abend vor dem Mahnmal auf dem Lappenberg vor.
So erfuhren die Anwesenden die Lebensgeschichte eines jüdischen Fleischermeisters, der 1935 seinen Betrieb abgeben musste, allerdings zunächst noch in seinem Haus in der Osterstraße 7 leben bleiben durfte. Eines Tages schlagen SA-Männer den Juden grundlos zusammen und er wird der Gestapo gemeldet. „Es war das letzte Mal, dass er von seiner Frau gesehen wird“, berichtet Noa Lin-Noske von der Robert-Bosch-Gesamtschule. Zwei Jahre, nachdem er sein Haus abgeben musste, stirbt er im Konzentrationslager in Buchenwald.
Doch nicht nur aus dem Stadtleben wurden Jüdinnen und Juden weitgehend verbannt. Zahlreiche Freundschaften zerbrachen, alte Freunde wurden plötzlich zu verhassten Kreaturen, weil man selbst eifriger Anhänger Hitlers, der Freund ein aus deren Sicht verachtenswerter Jude sei. Auch eine solche traurige Lebensgeschichte wird am Abend auf den Fundamenten der 1938 komplett niedergebrannten Synagoge erzählt.
Kurz nachdem die Synagoge abbrannte, so war von Jahn zu erfahren, diente die ehemalige jüdische Schule eine Zeit lang noch als Ersatz für den niedergebrannten Sakralbau. Hans-Jürgen Jahn stellte ein Schicksal vor, das für die Betroffenen jedoch glücklich endete. Er erzählte die Geschichte der Zionistin Trude, jener Gruppe von Juden, die sich zum Ziel setzten, nach Palästina auszuwandern, um dort die zionistische Idee eines jüdischen Staates verwirklichen zu können. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Hildesheimer Juden gelang es Trude, das Land zu verlassen.
Zum Abschluss des Gedenkens verlasen Wolf-Georg von Eickstedt und Eliaf Abraham traditionelle jüdische Gebete, die sie den Opfern der Reichspogromnacht und des Holocaustes widmeten. Auch Wolfgang Voges, Dechant der katholischen Kirche Hildesheims forderte in seinem abschließenden Gebet: „Herr, lass uns den Mund aufmachen gegen dumpfe Parolen, Hass und Rassismus.“