

Akzente in der Diskussion deutscher Schulentwicklung1
Begriffe konstituieren unseren Zugang zur Wirklichkeit. Das gelingt allerdings nicht immer gleich gut. Manchmal ist unsere Sprache vieldeutig und unklar; manchmal schlägt der Begriff eine bestimmte und von den Sachverhalten her nicht zu legitimierende normative Richtung ein. In der aktuellen pädagogischen Diskussion um die deutsche Schulqualität ist beides gleichzeitig zu beobachten. Hier geht es neuerdings um die offensichtlich als bedeutsam entdeckte „Haltung“ (der Lehrkräfte und der Schulleitungen); und es geht auch, und in diesem Zusammenhang, um den Umgang mit „Widerstand“ in einer Vorstellung von Schule, bei der der Handlungsraum der Akteure nicht nur als bürokratische Institution sondern vielmehr als soziale Organisation (in der der menschliche Faktor dann die entscheidende Rolle spielt!) begriffen wird. Allerdings: Was mit „Haltung“ gemeint ist und welche Rolle diese charakterliche Eigenschaft im schulischen Reformprozess spielt oder spielen sollte, ist den Beteiligten wohl eher unklar. Noch diffuser wird es bei dem (eigentlich notwendigem!) Versuch zu beschreiben, wie diese „Haltung“ durch Handlungen positiv beeinflusst werden könnte. Immerhin soll ja die Schule besser werden. Und in diesem Kontext ist außerdem die, sozusagen normativen Nebel werfende, Sprachunart zu beobachten, negative Haltungen in Lehrerkollegien metaphorisch aufgeladen als „Widerstand“ zu bewerten. Um sich dann anschließend um den korrekten Umgang mit diesem Phänomen sorgen zu müssen.
Das eine ist so unklar wie das andere falsch ist. Die folgenden Zeilen begeben sich auf eine evolutionssoziologische wie demokratiegeschichtliche Suche nach den relevanten Aspekten, die im Kern und wesentlich hinter diesen aktuellen Metaphern von „Haltung“ und „Widerstand“ versteckt sein könnten.
Evolution sozialer Systeme
Eigenständige Gestaltung bedarf eigenständiger Entscheidungen. Oft geht es dabei um eine Abwägung zwischen Verändern und Bewahren. Institutionen sind, ähnlich wie Individuen, in ihrer Biografie und Realität geprägt von der gelingenden oder misslingenden Balance von Kontinuität und Wandel. Beide Aspekte sind Teil der Wirklichkeit – und sie sind, trotz ihrer Gegensätzlichkeit, weit ineinander verschränkt: Wandel beginnt nie ganz von Neuem und Kontinuität ist nie einfach nur die Fortsetzung des Alten. Diesen notwendigen Dualismus anzuerkennen fällt enthusiastischen Reformern wahrscheinlich genauso schwer wie eingefleischten Konservativen. In Schulen gilt dies gleichermaßen: In einer sich verändernden Wirklichkeit bedürfen Schulen einer kontinuierlichen wie adaptiven Reform ihrer Prinzipien und Praxen; aber Schulen ohne traditionelle Bindungen, ohne die Kontinuität ihrer Pädagogik, begeben sich in die Gefahr prinzipienloser Ausbildungseinrichtungen. Und da in Schulen Praktiken des Wandels und der Reform ebenso wie Praktiken des Bewahrens und der Kontinuität sowieso immer vorhanden sind, muss Schulleitung diesem Rechnung tragen und sollte bei dem bewahrenden oder verändernden Versuch der Beeinflussung schulischer Wirklichkeiten das Vorhandensein von Beidem konstruktiv berücksichtigen. Insofern ist die (jeweils bei jeder Aufgabe konkret andere) Balance zwischen Kontinuität und Wandel, der Ausgleich zwischen eher konservativ oder mehr reformfreudig aufgestellten Lehrkräften eine wichtige Aufgabe, die das Gelingen von Aktivitäten eher unterstützt denn behindert.
Diese Erkenntnis führt zu der Folgerung, dass auch in Schulen die Zusammensetzung des Kollegiums, und auch der Schulleitung, dann optimal wäre, wenn mehr bewahren wollende Charaktere ebenso wie mehr reformfreudige Akteure am Ringen um die besten Entscheidungen gleichermaßen fair beteiligt wären. Klar ist, dass es dabei immer Akzentuierungen in die eine oder andere Richtung geben wird. Dies muss, entsprechend der konkreten und unterschiedlichen Situation jeder Schule, auch so sein. Wichtig wäre allerdings, dass viele der Betroffenen an den Entscheidungen beteiligt werden und diese sich auch wirklich einbringen können. Systemtheoretisches Kalkül und demokratische Prinzipien ergänzen sich hier sehr gut. Und es ist dann auch nichts Außergewöhnliches oder Besonderes wenn zum Beispiel Reformbemühungen gegenüber ein kritischer Blick aus der Richtung des Bewahrens und der Kontinuität zu Teil wird. Das darf nicht vorschnell mit „Widerstand“ verwechselt oder in diesem Sinne abwertend pauschalisiert werden. Zumal die Tatsache des Bewahren-Wollens eine sinnvolle und durchaus notwendige Systemeigenschaft beschreibt. Umgekehrt ist es genauso legitim, Strukturen und Prozesse verändern zu wollen, wenn der Abgleich zwischen dem angestrebten Soll-Zustand und dem Ist-Stand dies offensichtlich erfordert. Auch das ist eine völlig notwendige und sinnvolle Eigenschaft adaptiv erfolgreicher Systeme (zum Beispiel biologischer Systeme, sozialer Institutionen und von Gesellschaften wie von einzelnen Individuen gleich welcher biologischen Art).
Die Begründung der gleichzeitigen Existenz beider Systemeigenschaften liegt meines Erachtens logisch wie empirisch in der Notwendigkeit fortwährender Anpassung – und dem damit immanent verbundenen Risiko einer Verschlechterung des Anpassungsgrades durch das Neue – begründet. Dies gilt vermutlich allgemein. Für Systeme, an denen der Mensch als Akteur beteiligt ist kommt noch hinzu, dass die mit dem außergewöhnlich und einzigartig entwickelten angeborenen Neugier-Verhalten verbundene Innovationsfreudigkeit der menschlichen Spezies durch zurückhaltende Impulse gebremst werden muss, soll nicht zu vorschnell das Alte dem vermeintlich besseren Neuen geopfert werden. Folglich ist eine Balance zwischen diesen beiden Impulsen insbesondere in sozialen Systemen notwendig.
Über diese logische Ebene notwendiger Systemeigenschaften hinaus gibt es dann aber Phänomene, die tunlichst nicht mit diesen in einen Topf geworfen werden sollten. Zum einen machen vielen Menschen Veränderungen eher Angst, als dass sie diesen euphorisch zustimmen. Auch wenn sie die Notwendigkeit von Reform gedanklich durchaus berücksichtigen und dem in der Sache eigentlich zustimmen. Hier sind es Aspekte der Kommunikation, der Offenheit sowie der Ehrlichkeit, die, wenn sie im Prozess hinreichend berücksichtigt werden, der Sache zuträglich sind und irrationale Ängste abbauen helfen. Auf keinen Fall sollte dieses Phänomen auch nur in irgendeiner Form diskreditiert werden. Zum anderen: Ein anderer Aspekt betrifft das Phänomen menschlicher Faulheit. Schulen leiden unter (nicht überforderten und nicht „ausgebrannten“, sondern einfach nur) faulen Lehrkräften, die ohne weiteren Grund keine Lust darauf haben, sich angemessen pädagogisch zu engagieren. In vielen Fällen verhindert hier der Beamtenstatus die Möglichkeit hierarchischer Einflussnahme; umgekehrt mangelt es in Schulen völlig an den notwendigen und in Deutschland längst überfälligen materiellen Anreizsystemen, die die belohnen, die fleißig und engagiert sind. Insofern ist der „Umgang mit den Faulen“ für die Schulleitungen in deutschen Schulen noch einmal ein besonderes und bislang nicht gelöstes Problem. Gleichwohl noch einmal: Faulheit ist keine notwendige Systemeigenschaft etwa als Ausdruck konservativer Haltung. Und diejenigen, denen es um das Bewahren von Strukturen oder Prozessen geht, würden sich auch bedanken, wenn man sie mit denen, die einfach nur keine Lust auf möglicherweise mit Arbeit verbundene Veränderung haben, in einen Topf werfen würde.
Widerstand und Despotismus
Die in der aktuellen Diskussion zur Schulentwicklung gern verwendete Metapher des „Umgangs mit Widerstand“ ist denn auch eine gänzlich ungeeignete Kategorie, um das zu beschreiben – und möglicherweise zu verändern – warum es bei der Beschreibung und Analyse von Schulentwicklungsprozessen geht. Die Metapher hat es außerdem auch so „in sich“: Auf der einen Seite werden diejenigen, die gegen eine Maßnahme, die in dieser Vorstellung meist wohl von der Schulleitung intendiert ist, metaphorisch in die Gruppe von Widerstandskämpfern eingereiht und – sozusagen als „Kämpfer für Demokratie und Gerechtigkeit“ in Schule – heroisiert; dies auch dann, wenn schlicht Lustlosigkeit und Apathie die entscheidenden Motive sind. Auf der anderen Seite werden diejenigen, gegen die sich der Widerstand richtet, in eine Linie mit Unrechtsregimen gebracht. Und diejenigen, die den geplanten Maßnahmen, im Gegensatz zur Gruppe des Widerstands, eher zustimmen, werden auf die Stufe von Anpassern und Opportunisten gestellt. Allein mit dieser Metaphorik wird eine sinnvolle Streitkultur eher behindert oder geradezu unmöglich gemacht. Deshalb spricht viel dafür, nicht mehr vom „Umgang mit Widerstand“ zu sprechen sondern stattdessen „sachliche Kontroversen“, „unterschiedlichen Positionen“, „alternative Auffassungen“ und „divergente Entscheidungstendenzen“ zu konstatieren. Auch sollte man von Faulheit anstatt von Widerstand sprechen, wenn diese der eigentliche Grund für das ablehnende Verhalten ist.
Die „Haltung“ und das jeweilige „Wollen“ der Lehrkräfte, sind, so empirisch unbestimmt2 oder gar schillernd vor allem der Begriff der „Haltung“ auch sein mag3, wahrscheinlich von großer Bedeutung für das Gelingen von Schule: So war und ist die Geschichte der Hildesheimer Robert-Bosch-Gesamtschule4 geprägt von einer generellen Bereitschaft (im Sinne eines besonderen Handlungsethos´ und einer besonderen „Haltung des Gestaltens“) sich den Dingen aktiv zuzuwenden und die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Das daraus in konkreten Zusammenhängen erfolgende „Wollen“ spielte eine entscheidende Rolle5. Der erkennbare Enthusiasmus vieler Lehrkräfte strahlte ab und beeinflusste Andere. Diese „Haltung des Gestaltenwollens“ ist ein wichtiger Aspekt in der Geschichte der Robert-Bosch-Gesamtschule. Als entscheidender Aspekt kann meines Erachtens allgemein festgehalten werden: Erfahrungen der selbsttätigen Gestaltung der pädagogischen Arbeit sowie der demokratischen Teilhabe an den Entscheidungen der Institution – als Individuen wie in der Gruppe – prägen die Identifikation und fördern die motivationale Voraussetzung für Engagement und gelingende Praxis.
Eine wichtige Erkenntnis für mich ist denn auch, dass Veränderungen auf der Ebene der Einzelschule zu erreichen sind – wenn diese von wesentlichen Akteuren der Schule wirklich gewollt, und, in ihrer Planung und Umsetzung, handwerklich gekonnt werden. Schulleitung spielt dabei die zentrale Rolle. Es ist ihre Haltung des Gestaltenwollens – und es ist ihr Bild von „ihrer“ Schule als „ihrer“ Organisationseinheit, was die Entwicklung trägt oder auch nicht. Und wenn man danach fragt, wie Schulleitungen die Bedingungen organisieren sollten, damit die Lehrkräfte, die die eigentlichen pädagogischen Akteure sind, sich so engagieren, wie sie es in der Robert-Bosch-Gesamtschule getan haben, so ist die Antwort hier, dass der innere Raum von Schule so mit personalen, konzeptionellen und organisatorischen Ressourcen zu möblieren ist, dass die Lehrkräfte viel können, viel wollen und viele Möglichkeiten haben – und dabei gerne und professionell mit anderen zusammenarbeiten. Wie das konkret zu geschehen hat, dass muss und wird in jeder Schule neu und gegebenenfalls anders entschieden werden. Man kann aber allgemein festhalten: Für das Gelingen pädagogischer Qualität ist es am besten, wenn Schulen mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit ihre inneren Prozesse, ihre Strukturen und ihre Einbettung in ihr spezielles gesellschaftliches Umfeld eigenständig regeln und gestalten könnten. Sich dafür in einem stärkeren Maße als bisher einer externen staatlichen Überprüfung zu stellen, versteht sich von selbst.
Wilfried Kretschmer
Lissabon Januar 2017
1 Vgl. dazu auch die aktuell (1/2017) erscheinende umfassendere Veröffentlichung des Autors mit dem Titel „Schule leiten“ zu diesem Thema (Verlag Beltz/Juventa)
2 In der Literatur wird die Kategorie der „Haltung“ ähnlich wie die griechische Kategorie des „Ethos“ verstanden: „Temperament, Gemütsart, Sitte, moralische Gesinnung, sittlicher Charakter, aber auch Gewohnheit, Gewöhnung: Umgangssprachlich dient das Wort Ethos zur Bezeichnung der Haltung oder Sinnesart eines Einzelnen, einer Gruppe oder Gemeinschaft, insofern diese einen moralischen Charakter besitzt. So spricht man z. B. vom Berufsethos eines Menschen und meint damit Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Genauigkeit, aber auch Freundlichkeit im Umgang mit anderen oder Ehrlichkeit. Mit dem Ethos einer Gruppe können Eigenschaften wie gegenseitige Treue oder die Nichtanwendung bestimmter, als moralisch unwürdig angesehener Praktiken aufgerufen werden. Unter dem Ethos einer Gemeinschaft kann man deren im weitesten Sinne sittlich relevante Grundprinzipien, wie z. B. Schutz des Lebens, Streben nach sozialer Gerechtigkeit usw. begreifen. Als philosophischer Terminus bezeichnet Ethos zum einen die Grundhaltung eines Menschen, seine (moralischen) Überzeugungen und (angeborenen) Anlagen, welche durch Übung und Erziehung ausgeprägt und gefestigt werden. Zum anderen steht Ethos für diejenigen charakterlichen Merkmale bzw. Tugenden, die sich nicht ausdrücklicher Unterweisung verdanken, sondern Ergebnis der Gewöhnung, des ethischen Handelns sind“ aus: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/%3Ftitle%3DEthos
%26tx_gbwbphilosophie_m…; download 31.05.2015; 15.00 Uhr
3 In sehr vielen neueren Publikationen zur Schulentwicklung wird inzwischen auf die Bedeutung der „Haltung“
der Akteure für das Gelingen hingewiesen. Ich glaube, dass viele der Autoren ähnliches dabei „ahnen“. Ich gehöre
dazu. Wissen tun wir allerdings recht wenig über das was „Haltung“ ist (und was wir damit meinen) und über das
was „Haltung“ wirklich im Gelingensprozess von Schule ausmacht.
4 Der Autor ist Schulleiter der Robert-Bosch-Gesamtschule, einem der Hauptpreisträger des Deutschen
Schulpreises, und er arbeitet mit in der Programmleitung der Deutschen Schulakademie. Hier interessiert er sich
besonders um Fragen der Fortbildung von Schulleitungen.
5 Vgl. dazu: „Wie entsteht das Wollen? Nach existenzanalytischem Verständnis braucht es das Berührt sein mit
etwas, das uns wertvoll ist. Eine zentrale Beobachtung der Existenzanalyse lautet deshalb: Werte ziehen den
Menschen an, sie sind attraktiv und deshalb „wollen“ wir. Zugespitzt formuliert bedeutet das: Der Mensch kann
sein Wollen gar nicht eigenmächtig machen, er ist vielmehr darauf angewiesen, dass es sich einstellt. Und es stellt
sich ein, wenn er in Kontakt kommt mit etwas, das für ihn wertvoll ist, also von persönlicher Bedeutung ist.“
(Kolbe, 2010, 25 ff)