

Dr. René Mounajed
Gesamtschulleiter
Hildesheim, 28.04.2020
Liebe Schülerinnen und Schüler,
liebe Eltern,
liebe Kolleginnen und Kollegen und
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
Eigentlich müsste ich als Schulleiter doch richtig glücklich sein – endlich sind seit gestern (27.4.2020) wieder Schüler*innen in der Schule und wir Lehrkräfte können endlich wieder realpräsent unserer Aufgabe nachkommen. Eine Schule ohne Schüler*innen, diese gähnende Leere hat ja eigentlich für leidenschaftliche Pädagog*innen etwas Erschreckendes: Man denke an den armen Schulleiter im legendären Film „Die Feuerzangenbowle“, der ja fast einem Herzinfarkt erliegt ob der leeren Gänge und Klassenräume aufgrund des Schülerstreichs „Heute fällt die Schule aus“.
Ich bin aber nicht glücklich! Ich mache mir Sorgen um die Menschen meiner Schulgemeinschaft: Vielleicht, weil ich Corona ernst nehme? Vielleicht, weil ich mich frage, ob Abschlussprüfungen und sogar die Abiturprüfungen so notwendig sind? Vielleicht, weil ich denke: Nein! Pädagogisch notwendig ist es meiner Meinung nach in dieser Krise, die Schüler*innen in der Schule zu beschulen, die zu Hause ungünstige Lernbedingungen vorfinden oder wo Eltern – in welchem Beruf auch immer – gebraucht werden und ihre Kinder gut unterbringen müssen oder wollen. Diese Kinder haben ihre Bildungskarriere nämlich noch vor sich. Anstatt sich also in einem Durchführungsmodus zu ergießen, hätte man sich auf diese Schüler*innen fokussieren können: An allen Schulen und Schulformen, sogar am Gymnasium. Im Übrigen: Die meisten Gymnasien haben in diesem Jahr gar kein Abitur, Abschlussprüfungen in den Jahrgängen 9 und 10 gibt es in dieser Schulform nicht: : Es sind vor allem die Gesamtschulen und Berufsschulen, die viele Menschen ins Haus zu lassen haben. Wir an der RBG haben unser Notbetreuungsangebot im Rahmen unserer Möglichkeiten erweitert und jene Schüler*innen eingeladen, die uns unserer Meinung nach dringend brauchen.
Eine Bestandsaufnahme ergibt: Gestern waren nicht gleichzeitig, sondern peu à peu, ca. 300 Menschen in der RBG: Das geht ganz schnell: Abiturient*innen gestaffelt nach Tutoriaten, der halbe 10. Jahrgang, die Abschlussprüfler des 9. Jahrgangs, die Kinder in der Notbetreuung, die Kolleg*innen und die Mitarbeiter*innen. Hat das noch etwas mit dem zu tun, was „Stay home“ uns sagen wollte?
Durch meine ehrenamtliche Tätigkeit im Vorstand des Schulleitungsverbandes Niedersachsen (SLVN) weiß ich, dass es ganz vielen Schulleiter*innen ganz unterschiedlicher Schulformen so geht wie mir: Wir machen uns Sorgen und fragen uns, ob diese Sorgen bei den politische Verantwortlichen Gehör finden oder abgetan werden. Eine Gesamtschulleiter-Kollege aus Niedersachsen schrieb mir:
„Die Schüler*innen in einer so vielfältig belastenden Situation durch Prüfungen zu treiben müsste dem Kinderschutzbund gemeldet werden.“
Wenn wir hören, was Schüler*innen dazu denken, wird es noch gravierender. Zwei Argumentationen habe ich herausgegriffen:
So schreibt die Schüler*innen-Vertreterin Lea Herkenhoff vom Gymnasium Ursulaschule in Osnabrück an den Kultusminister in einem offenen Brief:
„Für uns alle ist, zusammenhängend mit der enormen psychischen Belastung, jedoch mit Abstand das wichtigste Argument gegen einen erneuten Schulbeginn am 27.04.2020 und die Abnahme der Abiturprüfungen, unsere und vor allem die Gesundheit unserer Familienmitglieder. Fast alle Schüler gelangen mithilfe des öffentlichen Verkehrsnetzes zur Schule, in der Schule benutzen wir die gleichen Türklinken, die gleichen Sanitäranlagen und atmen in den Räumen dieselbe Luft ein und aus. Selbst mit den schärfsten Hygienemaßnahmen lassen sich all diese Gefährdungspunkte nicht aus dem Weg schaffen. Uns ist durchaus bewusst, dass wir nicht zu der Risikogruppe gehören. Dennoch gibt es mehrere bestätigte Fälle, in denen auch junge Menschen einen schweren Krankheitsverlauf durchleben mussten und auch einige, die dies nicht überlebt haben. Eine noch viel größere Gefahr sehen wir darin, dass es bei Menschen in unserem Alter häufig vorkommt, dass der Betroffene nicht merkt, dass er sich infiziert hat und das Virus somit weit verbreiten kann. Ebenfalls gehören auch einige Lehrer zur Risikogruppe, wodurch noch nicht klar ist, ob diese in den letzten Wochen vor dem Abitur überhaupt unterrichten können und sich, wenn doch ebenfalls in der Schule anstecken könnten. Wir befürchten, dass Schulen sich zu neuen Infektionsherden entwickeln könnten, die vermutlich erst wahrgenommen werden, wenn es bereits zu spät ist. Dies können auch sehr strenge Hygienemaßnahmen nicht verhindern. Außerdem gehören einige unserer Eltern sowie all fast unserer Großeltern zu der Risikogruppe. Allein der Gedanke diese Personen, durch die Öffnung von Schulen einem erhöhten Risiko auszusetzten, sich über uns zu infizieren, bereitet vielen von uns große Sorgen.“
Und die Schülersprecherin der IGS Linden Linn Manger ergänzt:
„Generell leiden einige Schüler*innen durch den täglichen Medieneinfluss und die zahlreichen Infos über den Krankheitsverlauf von COVID-19 an Konzentrationsschwierigkeiten und auch Krankheitsfälle oder sogar Todesfälle im direkten Umfeld sorgen bei uns für Einschränkungen der Konzentration. Außerdem stehen Familien mit selbstständig arbeitenden Elternteilen vor dem Existenzverlust, was einen zusätzlichen Stressfaktor für die Schüler darstellt, weswegen konzentriertes Lernen zuhause kaum möglich ist.“
Ich finde, die Schüler*innen haben Recht und ihre Argumente sind vernünftig. Sie verdienen es, ernst genommen zu werden!
Ich wünsche mir, dass „Corona“ und die vielschichtige Krise mit Schüler*innen thematisiert werden: Die Ängste, Sorgen und Dilemmata der Schüler*innen benötigen ein Ventil.
Mich trägt durch diese Tage das positive Feedback von Eltern, die sich für das große Engagement von Lehrkräften bedanken: sei es im Homeoffice oder in der persönlichen Beratung! Das Engagement, das auch wir in diesen Tagen leisten, bleibt offenbar oftmals bei Schüler*innen und Eltern nicht unbemerkt.
Ich danke ausdrücklich allen Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen, die in dieser schwierigen Zeit ganz selbstverständlich und hoch engagiert ihren Dienst versehen: bei uns an der RBG oder anderswo. Und ich danke auch allen Eltern, die uns ihre Unterstützung angeboten haben. Bei uns Schulleitungen und Lehrkräften, so erfahre ich es in diesen Tagen vielfältig, ist die Belastungsgrenze oftmals erreicht oder auch schon überschritten!
Bleiben wir alle gesund! Herzliche Grüße von René Mounajed