von Hicran Is
Was wäre, wenn ich nie die Bewerbung abgeschickt hätte? Wenn ich nie in das Flugzeug gestiegen wäre? Oder wenn ich mich nach dem ersten Treffen abgemeldet hätte?
Seit Tagen frage ich mich das immer wieder im Bett, kurz bevor ich einschlafe: Was wäre, wenn? Ich glaube – nein, ich weiß –, dass ich niemals all das erlebt hätte, was ich in diesem Monat erlebt habe. Alles, was ich gesehen, gefühlt und gelernt habe. Ich habe es erlebt, und dafür bin ich unendlich dankbar.
Diese Reise hat mir viel gezeigt, aber das Wichtigste war das Bewusstsein. Das Bewusstsein für alles. Mir ist klar geworden, dass ich eigentlich reich bin mit dem, was ich habe. Meine Familie, Essen, ein warmes Zuhause und die Freiheit, das tun zu können, was ich will. Das alles ist mir plötzlich so bewusst geworden.
Doch warum habe ich so viel, und die Menschen hier so wenig? Bin ich besser oder besonderer als sie? Nein, das bin ich nicht. Wir sind gleich, und trotzdem trennt uns etwas. Nicht nur die gute Kleidung oder die regelmäßigen Mahlzeiten – es ist etwas anderes etwas Tieferes. Etwas, das mich nicht loslässt: die Dankbarkeit.
Dankbarkeit für jede Handlung, jede Geste, für jeden Augenblick. Eine Dankbarkeit, die ich kaum beschreiben kann. Warum haben die Menschen hier so wenig und sind trotzdem so dankbar? Und warum denke ich, wenn ich ein Loch in meiner Hose entdecke, sofort daran, am Abend eine neue zu bestellen? Warum?
Warum ist das Leben so unfair?
Es ist, als wären all meine Sorgen, all meine Probleme wie vom Erdboden verschluckt, wenn ich die Augen der tansanischen Kinder sehe. Jedes Problem, das mir so wichtig erschien, wirkt plötzlich wie ein winziges Maiskorn im riesigen Maisfeld: unwichtig, irrelevant.
Erst hier ist mir klar geworden, wie übermäßig und krankhaft unser Konsum in Deutschland ist. Wir sehen es als selbstverständlich an, alles ständig neu zu kaufen, massenhaft, ohne zu überlegen, ob wir es wirklich brauchen. Und hier laufen die Kinder mit einem Stück Stoff herum, das kaum als Kleidung durchgeht. Was würden sie wohl denken, wenn sie unsere überfüllten Kleiderschränke sehen könnten? Würden sie verstehen, warum wir immer weiter kaufen, kaufen und kaufen?
Wenn ich an Deutschland denke, werde ich einfach nur müde. Müde von dem Wissen, dass unsere Gesellschaft nicht daraus lernt. Müde von den Menschen, die sich beschweren, wenn das Essen nicht schmeckt oder sie an der Kasse zu lange warten müssen. All das macht mich müde.
Wie wäre es, wenn diese Menschen wüssten, wie es den Kindern hier geht? Würde es einen Unterschied machen? Oder tragen sie alle einen Schleier vor ihren Augen, der die echte Realität verdeckt? Ich glaube, es ist der Schleier der Angst. Die Angst davor, die Wahrheit zu sehen. Denn mit der Angst kommt Mitleid, und mit dem Mitleid die Traurigkeit, die schneller kommt, als wir sie wegschieben können. Und was dann? Die bittere Gewissheit, dass man nicht viel tun kann. Außer an sich selbst zu arbeiten. Aber wer will das schon, wenn es so viel einfacher ist, einfach weiterzumachen wie bisher? Ich habe es aber getan. Ich habe hingesehen. Und dafür bin ich dankbar.
Wenn ich aus dem Flieger steigen werde in einer Woche, werde ich an die wunderbaren Menschen hier denken. Jedes Mal, wenn ich versucht bin, etwas zu kaufen, das ich nicht brauche, werde ich an das Kind denken, mit dem Sack Mais auf der Schulter und in der anderen einen schweren Kanister. Ich werde an die Kinder denken, die mit einem Lächeln im Gesicht und einem Fetzen als Kleidung herumlaufen. Ich werde an sie alle denken.
Sie haben mir gezeigt, was wirklich zählt. Sie sind der Grund, warum ich mich verändert habe. Sie sind der Grund, warum ich jetzt hier sitze und diese Worte schreibe. Sie sind wertvoll. Und ihre Gesichter trage ich für immer in meinem Herzen. Für immer.